Jeewi Lee

Für mich ist ein gutes Konzept und eine präzise Umsetzung wichtig – aber der emotionale, poetische Teil ist das, was Kunst für mich letztlich ausmacht.

Die Künstlerin Jeewi Lee (*1987 in Seoul) lebt und arbeitet in Berlin und Seoul. Wir haben uns in ihrem wunderschönen Atelier in Kreuzberg getroffen und über ihre Arbeit gesprochen, die mich schon seit langem fasziniert. Jeewi arbeitet multidisziplinär und verfolgt eine sehr konzeptionelle Herangehensweise, sie betreibt Materialforschung, arbeitet mit Expert:innen aus unterschiedlichsten Bereichen zusammen und erschafft immer wieder beeindruckende Installationen, sowie Malerei-Serien, die trotz aller Konzeption, Wissenschaft und Forschung am Ende wundervoll poetisch sind. Im Zentrum ihres Schaffens stehen die Spuren des Lebens auf dieser Welt, die wir hinterlassen, auffinden und die uns begleiten – und die wir oft gar nicht beachten. Diesen Spuren schenkt Jeewi eine ganz besondere Aufmerksamkeit und wenn wir sie einmal mit ihren Augen gesehen haben, können wir sie nicht mehr vergessen – so geht es mir zumindest.

Liebe Jeewi, ich freue mich sehr, dich zu treffen und dein schönes Studio zu sehen. Ich will gleich mal einsteigen mit der Ausstellung „FIELD OF FRAGMENTS“, die du vor kurzem in der Sexauer Gallery in Berlin gezeigt hast; denn ich war sehr beeindruckt davon – du hast Sandkörner aus den unterschiedlichsten Regionen der Welt gesammelt, von New York bis Korea, mit Hightech-Geräten gescannt, mehr als 850-fach vergrößert und als Skulpturen ausgestellt. Was fasziniert dich an dem Thema und am Material Sand?

Sand ist – nach Wasser – das Material, von dem wir im Alltag am meisten abhängig sind. Man sagt, dass pro Kopf täglich etwa 18 kg Sand verbraucht werden. Er steckt nicht nur in Beton und Glas, die uns umgeben, sondern auch in Silizium, das essenziell für digitale Chips ist. Fast alle Alltagsgegenstände werden mit Hilfe von Sand produziert – und doch ist er ein völlig unterschätztes Material. Jedes Sandkorn ist Tausende oder sogar Millionen Jahre alt, reist über Kontinente, wird an Küsten angespült, von Wellen weitergetragen. Jedes Korn trägt eine lange Geschichte in sich. Ich wollte diesen einzelnen Sandkörnern endlich die Aufmerksamkeit schenken, die sie verdienen – und ihre erstaunliche Formenvielfalt sichtbar machen. Denn schaut man Sand unter dem Mikroskop an, erkennt man: Er ist ein Archiv seiner Umgebung, besteht aus verschiedensten Materialien, Farben und Strukturen.

Es ist sehr spannend, sich das einmal wirklich bewusst zu machen. Ich beobachte deine Arbeit ja schon eine ganze Weile und finde interessant, wie durch deine Kunst oft Dinge, die eigentlich kaum beachtet werden, plötzlich bedeutsam werden und wie du gewissermaßen unsichtbare Dinge sichtbar machst. Als Zuschauer:in schenkt man mit dir gemeinsam den Dingen plötzlich eine ganz neue Aufmerksamkeit – so fühlt es sich für mich zumindest an. Ich finde das sehr poetisch, man sieht die ganze Welt in einem kleinen Detail – fühlst du das auch so und was hat dich zu diesem Ansatz geführt?

Mich interessieren oft Überbleibsel, Spuren, Hinterlassenschaften – Dinge, die übersehen oder nicht wertgeschätzt werden. Dabei erzählen sie Geschichten, zeugen von Zeit und Geschehen und tragen eine gewisse Indexikalität in sich. Ich sehe darin oft zeichnerisches und malerisches Potenzial. Wenn ich durch meine Kunst einen neuen Blick ermöglichen kann, der zu mehr Aufmerksamkeit oder Bewusstsein führt, freut mich das natürlich sehr.

Warum interessieren dich Spuren so sehr?

Spuren sind abstrakt und minimalistisch in ihrer Form, aber tragen ein Narrativ und erzählen von einem vergangenen Geschehen und Zeit. In einer Spur existieren Abwesenheit und Anwesenheit zugleich und es ist ein Moment, wo die Vergangenheit und Gegenwart sich kreuzen, was ich sehr spannend finde.

Du hast für die jüngste Arbeit „Fragments“ mit Phillip C. Reiner zusammengearbeitet, der mit dir deine künstlerische Vision entwickelt und geholfen hat, sie zu produzieren. Phillip ist Geometrie-Forscher und hat lange auch im Studio von Olafur Eliasson gearbeitet. Wie sehr ist deine Arbeit durch Kollaborationen und durch Forschung und Wissenschaft geprägt?

Das ist ganz unterschiedlich, je nach Projekt. Für „Fragments“ habe ich mit Phillip und mit ZEISS Messtechnik GmbH zusammengearbeitet. In früheren Projekten wie „Blinder Beifall“ habe ich mit einem Zirkus kooperiert oder bei „Ashes to Ashes“ mit Seifenmacher:innen. Ich liebe es, mit Fachleuten und lokalen Communities zusammenzuarbeiten – das ist sehr bereichernd. Es gibt aber auch natürlich Arbeiten, die ganz im Stillen mit mir allein im Studio entstehen, wie viele meiner Bilderserien und Malereien. Ich schätze tatsächlich auch die Momente im Studio, isoliert von der Welt, zu arbeiten genauso sehr wie Kollaborationen mit anderen Künstlern oder Fachmenschen.

Ich finde deine Arbeiten sind auf der einen Seite sehr technisch und wissenschaftlich, gleichzeitig aber auch sehr poetisch und emotional – empfindest du das auch so?

Ja, gerade bei „Fragments“ war die wissenschaftliche Komponente sehr präsent. Für mich ist ein gutes Konzept und eine präzise Umsetzung wichtig – aber der emotionale, poetische Teil ist das, was Kunst für mich letztlich ausmacht und was sie von anderen Disziplinen unterscheidet.

Mich interessieren oft Überbleibsel, Spuren, Hinterlassenschaften – Dinge, die übersehen oder nicht wertgeschätzt werden.
— Jeewi Lee

Du bringst nun eine Edition raus diesen Sommer, kannst du etwas darüber erzählen: Steht die im Zusammenhang mit deiner letzten Ausstellung? Und wo kann man sie erwerben?

Ja, ich arbeite derzeit mit einer Handsiebdruckerei in Berlin an einer Edition zum Thema Sand. Das Motiv ist ein Röntgenbild eines senegalesischen Sandkorns, das wir nun mit Sand beschichtet auf Papier drucken. Es ist unglaublich spannend zu sehen, wie so ein Sandkorn von innen aussieht – ein Blick ins Unsichtbare.

Wow, klingt interessant, da bin ich schon sehr gespannt drauf. Lass uns nochmal kurz zurückspringen zu den Anfängen. Du hast an der UdK in Berlin studiert, warst in der Malerei-Klasse von Prof. Robert Lucander – und hast parallel dazu auch ein paar Monate das gleiche wie ich studiert (Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation). Und du warst auch am Hunter College in New York. Was hast du aus der Zeit mitgenommen und wie war für dich der Übergang in die „echte“ Welt nach der Uni?

Ich habe meine Studienzeit sehr genossen und dankbar genommen – diesen geschützten Raum, in dem man alles ausprobieren darf, Fehler machen kann. Gerade an deutschen Kunsthochschulen hat man extrem viel Freiheit, was einerseits toll ist, aber auch Disziplin und Selbstverantwortung verlangt. Nach dem Studium war der Übergang hart – keiner wartet auf deine Kunst, der finanzielle Druck ist plötzlich groß, man ist auf sich allein gestellt. Es gibt viele kleine, frustrierende Momente. Wichtig ist, einfach weiterzumachen, nicht aufzugeben – und die eigene Leidenschaft nicht zu verlieren.

Das kann ich mir gut vorstellen und in meinen Augen bist du einen sehr beeindruckenden Weg gegangen seitdem bis heute. Und nun hast du wie ich finde ein wunderschönes Atelier, eine Fabriketage mit so viel Licht und das mitten in Kreuzberg; ich glaube ja daran, dass unser Arbeitsumfeld auch sehr beeinflusst, wie wir denken und arbeiten – wie wichtig sind für dich die Bedingungen, die so ein Raum mitbringt?

Räume haben einen großen Einfluss auf meine Arbeit – oft ganz unbewusst. Ich liebe Künstlerresidenzen auch deshalb. Mein Studio hier bedeutet mir viel – und es ist mir wichtig, dass mein Zuhause in der Nähe ist. Für mich gehen Arbeit und Privatleben stark ineinander über. Wenn die Grenzen fließend sind, arbeite ich entspannter.

Du bist in Seoul geboren, deine Eltern sind auch Künstler und ihr seid oft umgezogen in deiner Jugend – ich habe mich gefragt, inwiefern diese Erfahrungen der Ortswechsel, der Anpassung an neue Gegebenheiten usw. deine Arbeit geprägt haben?

Diese ständigen Ortswechsel haben mich stark geprägt – meine Persönlichkeit, meine Perspektive, meine Themen. Lange war da ein Gefühl von Entwurzelung, von Suche nach Zugehörigkeit. Heute habe ich verstanden, warum mich Materialien mit „embodied memories“, ortsspezifische Installationen oder Hinterlassenschaften so interessieren – sie erzählen von Orten, von Bewegung, von Geschichte.

Du hast bereits zahlreiche Stipendien und Preise bekommen u.a. den Kunstpreis Junger Westen der Kunsthalle Recklinghausen, das Stipendium der Villa Romana in Florenz oder auch Villa Aurora in LA. Wie wichtig war das für deine Laufbahn und wie hat es dir weitergeholfen?

Für mich waren sie sehr wichtig. Jede Residency, jeder Preis hat mir neue Perspektiven eröffnet, neue Begegnungen ermöglicht. Ich persönlich bin jemand, die von jeder Erfahrung ziemlich viel, wie ein Schwamm, aufnimmt und mitnimmt. Wie entscheidend sie für meine Laufbahn waren, kann ich schwer sagen – aber Sichtbarkeit in der Kunstszene ist natürlich hilfreich, und für alle diese Möglichkeiten bin ich sehr dankbar.

Du hast so viele großartige Projekte realisiert, wie zum Beispiel „Ashes to Ashes“, oder die „Reinigungsbilder“ oder auch deine Arbeit im Skulpturenpark von Schloss Schwante, wo du einen Ast aus Bronze an einem Baum installiert hast. Sehr beeindruckende Arbeiten, aber es würde den Rahmen sprengen, die hier alle zu besprechen. Ich will nur gerne exemplarisch mal ein Projekt herausgreifen, weil ich es besonders liebe: die Serie von Paintings unter dem Namen „PAST TENSE“, wo du Bilder aus alten koreanischen Hanji-Papierböden (sog. Hanji Jangpan) geschaffen hast. Kannst du ein paar Worte zu dem Projekt sagen?

Hanji ist ein traditionelles koreanisches Papier, das nicht nur zum Schreiben oder Malen verwendet wurde, sondern in früheren Zeiten auch als Bodenbelag in Wohnhäusern diente – man nennt es Hanji-Jangpan. Für meine Serie „Past Tense“ habe ich solche Papierböden aus alten, verlassenen Häusern herausgenommen und sie gerahmt wie Bilder, um ihnen eine neue Form von Sichtbarkeit zu geben. Oft passiert das im Austausch – ich verlege einen neuen Boden für die Bewohner:innen und nehme im Gegenzug den alten mit.

Mich fasziniert, wie sich im Material selbst Zeit einschreibt: Jeder dieser Böden trägt die Spuren eines gelebten Alltags. Die Schritte der Bewohner:innen, das Licht der Sonne, die Hitze der traditionellen Bodenheizung (Ondol), Druckstellen von Möbeln oder Spuren von der Koreanischen Sitzkultur – all das hat sich im Papier abgedrückt, eingeschrieben, eingebrannt. Von unten bräunlich verfärbt durch das Heizsystem, von oben ausgebleicht vom Sonnenlicht – dazwischen eine lebendige Geschichte des Daseins. In diesen gebrauchten Papieren offenbart sich für mich ein malerisches, zeichnerisches, ja fast fotografisches Potenzial. Es ist, als würde sich das Unsichtbare in der Oberfläche abbilden – Spuren, Gesten, Atmosphären. Die Hanji-Böden sind stille Zeugen von Zeit und Körper, von Nähe und Erinnerung. Sie verbinden das Alltägliche mit dem Abstrakten und geben einem vergänglichen Material ein neues Leben als Bild.

Neben Sand, Asche, Salz, Seifen und Steinen etc. arbeitest du auch mit Sepien Schulpe, wie kam es dazu und was fasziniert dich daran?

Bei der Arbeit „Encounter (Future Past Tense)“ bzw. den Sepien Schulpen interessiert mich wie bei dem Sand der nomadische Aspekt dieses Materials. Sepien-Schulpen sind die Rückenknochen einer zehnarmigen Tintenfischart. Nach dem Tod der Tiere treiben sie oft monatelang an der Wasseroberfläche – leicht, schwebend, vom Ozean getragen. Dabei sammeln sie Spuren: Kratzer, kleine Einschreibungen, Abnutzungen – wie eine Reisedokumentation. Diese Spuren erzählen von der Zeit, vom Weg, vom Kontakt mit anderen Elementen. Mich fasziniert an diesem Material die Gleichzeitigkeit von Fragilität und Widerstandskraft. Trotz ihrer zerbrechlichen Struktur sind sie erstaunlich zäh und überlebensfähig. Für meine Arbeit habe ich die Schulpen mit Kupfer galvanisiert – wie eine Art Schutzhaut oder Mantel. So konserviere ich sie mit all ihren Geschichten und „archiviere“ ihre Geschichten. In jeder Skulptur ist ein Original eingeschlossen – ein Körper, der eine Reise hinter sich hat und nun in einer neuen Form weiterexistiert.

Das ist wirklich faszinierend. Und ich liebe es, wie trotz der so unterschiedlichen Materialien sich das Konservieren und Archivieren der Spuren und Geschichten aber auch das Transformieren wie ein roter Faden durch deine Arbeiten zieht. Danke übrigens nochmal für deinen wundervollen Katalog INDEX, der im Hatje Kantz Verlag erschienen ist und den ich nur jedem dringend empfehlen kann! Welche Künstler:innen inspirieren dich selbst aktuell am meisten?

Ich finde es immer eine schwierige Frage, welche Künstler:innen einen inspirieren. Viele begegnen mir unerwartet und zufällig – und dennoch ist da oft niemand, bei dem ich sagen würde: wirklich und dauerhaft. In letzter Zeit habe ich Arbeiten gesehen und geschätzt von Pierre Huyghe, Kim Soo-ja und Delcy Morelos.

Hörst du im Studio gerne Musik oder Podcasts, und wenn ja, was am liebsten?

Ja, sehr gerne – aber immer abhängig von meiner Stimmung. Mal Musik, mal Podcast oder ich lasse NTS laufen. Manchmal auch absolute Ruhe.

Wo führt dich deine Reise hin, welche Themen stehen jetzt gerade und in näherer Zukunft an?

Jetzt aktuell läuft eine Ausstellung, für die ich mit asiatischem Lack aus dem Baumharz des Toxicodendron vernicifluum gearbeitet habe. Die Werke werden momentan in Seoul gezeigt. Und letzte Woche habe ich eine kleine Ausstellung in Berlin mit meinem Bruder Jay Lee in einem Projektraum eröffnet, in der es um Abwesenheit und "object permanence“ geht, da der Projektraum eine verlassene, leerstehende Wohnung ist. Parallel läuft mein Sand-Projekt weiter, und meine Außenskulptur SEED – ein Kunst-am-Bau-Projekt an der Uni Heidelberg – wird gerade in Zusammenarbeit mit Studio Romano Tiedje und der Kunstgießerei St.Gallen finalisiert und die Aufregung ist groß.

Klingt sehr spannend, ich wünsche dir ganz viel Glück dafür. Und danke für das tolle Gespräch!

Ich danke dir – für das Interesse und die spannenden Fragen!

Malte Buelskaemper